INTERVIEW MIT DAVIDE MASTRODOMENICO

Remanufacturing als erfolgreiches Geschäftsmodell bei Girsberger

Remanufacturing gewinnt allgemein immer mehr Aufmerksamkeit bei Unternehmen, die auf der Suche nach nachhaltigeren Produktionsmethoden sind und die eine höhere Resilienz gegenüber Lieferkettenengpässe und die Steigerung von Energie- und Rohstoffpreisen aufweisen wollen. 

Davide Mastrodomenico, Bereichsleiter Remanufacturing, erklärt im Interview mit Milani, was Remanufacturing beim Schweizer Möbelhersteller Girsberger bedeutet, und wie es gelingt, dabei wirtschaftlich erfolgreich zu sein.

Girsberger Remanufacturing wurde mit dem Deutschen Nachhaltigkeitspreis 2023 ausgezeichnet.

Girsberger ist einer der Pioniere in der Schweiz, der Remanufacturing von Möbeln im B2B-Bereich anbietet hat den Deutschen Nachhaltigkeitspreis 2023 gewonnen. Was versteht man unter dem Begriff Remanufacturing?

Davide Mastrodomenico: Unter Remanufacturing versteht man einen teils handwerklichen, teils industriellen Prozess, bei dem man ein bestehendes Produkt in seine Einzelteile zerlegt, die defekten Teile wieder instand setzt und dann neu zusammenfügt und in seiner ursprünglichen oder sogar optimierten Funktion wieder in den Markt zurückliefert – bei gleichem oder besserem Qualitätsstandard.

Bei Girsberger bedeutet dies, dass wir zusammen mit der Bauherrschaft oder dem Architekten in einem konkreten Projekt das Mobiliar begutachten und analysieren, ob es sich lohnt, das Mobiliar instand zu setzen oder ob anstelle dessen besser neues Mobiliar angeschafft werden sollte.

Remanufacturing wird bereits in ganz unterschiedlichen Branchen angewendet, wie im Verkehrswesen, der Energiewirtschaft, Medizinaltechnik und in der Fertigungsindustrie. Man unterscheidet dabei unterschiedliche Remanufacturing-Modelle. Bekannt ist die Form der Wiederaufbereitung von eigenen Produkten, deren Materialien und Konstruktion man kennt, wie zum Beispiel Caterpillar dies mit seinen Baumaschinen anbietet. Das ist wirtschaftlich sehr interessant.

Ein anderes Modell ist die Wiederaufbereitung von Produkten fremder Hersteller, deren Materialien und Konstruktion man nicht kennt. Dieses Modell ist herausfordernder, aber ebenso wirtschaftlich interessant. Genau dies bietet Girsberger an.

Kannst Du erklären, wie kam es dazu kam, dass Girsberger den Service Remanufacturing anbietet?

DM: In der Vergangenheit kamen immer wieder Kunden mit ihrem von Girsberger erworbenen Mobiliar nach Jahren des Gebrauchs mit Reparaturanfragen auf uns zu. Neue Polsterungen, Bezüge oder etwa die Revision von Mechaniken wurden fällig. So entwickelte sich nach und nach ein höherer Bedarf, erhaltenswertes Mobiliar für eine weitere Nutzungsphase noch einmal aufzuarbeiten. Wir wurden dann immer häufiger angefragt, ob wir auch Fabrikate von anderen Herstellen instand setzten könnten.

Im Jahr 2006 entstand Remanufacturing als eigenständiger Geschäftsbereich. Heute bieten wir Remanufacturing herstellerunabhängig an. Es besteht eindeutig ein Bedarf an diesem Service, den andere Unternehmen aus produktionstechnischen Gründen, wegen fehlender Fachkompetenz im Haus oder auch aus Aspekten der Rentabilität nicht abdecken können oder wollen. Girsberger schlug diesen Weg ein mit der Überzeugung, dass nachhaltiges Denken und Handeln nicht nur Aufgabe jedes einzelnen Menschen, sondern vor allem auch in der Verantwortung jedes Unternehmens liegen müsse und bietet somit dieses Angebot an. Es hat sich zugleich auch zu ein einem erfolgreichen Geschäftsmodell für uns entwickelt!

Wieso könnt ihr Remanufacturing so gut umsetzen?

DM: Wir sind aufgrund unserer bestehenden Fertigungsbereiche und Manufakturen ein interdisziplinärer Dienstleister und haben deshalb alle nötigen Kompetenzen, um Remanufacturing-Services anzubieten.

Girsberger ist ja selbst Hersteller von den eigenen Möbelkollektionen Office und Home. Diese zeichnen sich neben dem industriellen durch einen hohen handwerklichen Fertigungsanteil aus und werden bei uns im Unternehmen hergestellt. Dazu zählen eine Schreinerei mit allen Holzver- und bearbeitungsschritten bis zur Oberflächenbehandlung, eine Metallverarbeitung, eine Lackiererei, die Polsterentwicklung, Polsterei, Näherei sowie Prüflabore für Material- und Belastungstests. Fachleute im Handwerk, in der Konstruktion und Entwicklung sind vor Ort und auf kurzen Wegen verfügbar. Zudem stehen Netzwerkpartner für Spezialaufgaben und eine umfangreiche Materialbibliothek zur Verfügung. Nur wenige Möbelhersteller haben diese Expertise und Infrastruktur unter einem Dach.

Welches sind typische Remanufacturing-Aufträge und wie wickelt Ihr einen solchen Auftrag ab?

DM: Remanufacturing ist ein interdisziplinärer „Rundumservice“. Zu den ganz typischen Aufgabenstellungen gehören das Abschleifen von Holzgestellen und damit verbunden eine neue Oberflächengestaltung sowie das Erneuern von Polsteraufbauten und Stoff- oder Lederbezügen. Auch das Erneuern von Scharnieren oder Mechaniken ist hier aufzuzählen. Oftmals handelt es sich um Möbel, die unter Denkmalschutz stehen oder zumindest ein wesentlicher Teil eines bewährten Interieurs sind.

Eine grundsätzliche Voraussetzung ist, dass es sich um eine erhaltenswerte Grundsubstanz handelt und eine gewisse Stückzahl angefragt wird, die den Aufwand rechtfertigt. Wichtig ist auch, dass es einen konstruktiven Aufbau gibt, der es erlaubt, die Bestandsteile auseinander zu nehmen.

Zu Beginn steht ein Beratungsgespräch, der Bedarf wird analysiert und eine Wirtschaftlichkeitsrechnung erstellt. Daraufhin wird ein Mustermöbel überarbeitet und das Angebot kalkuliert. Nach der Auftragserteilung wird das abgenutzte Mobiliar abgeholt und bei uns entsprechend überarbeitet. Am Ende erfolgt die Auslieferung. Auch Ersatzmobiliar stellen wir bei Bedarf zur Verfügung.

Nach beinahe zwei Jahrzehnten intensiver Nutzung wiesen die Sitzpolster des Konzertsaals im KKL Luzern deutlich erkennbare Abnützungserscheinungen auf. Zudem verursachten die Drehlager der Klappsitze störende Geräusche. Um ein gepflegtes Aussehen, den gewohnten Komfort und eine einwandfreie Funktion wiederherzustellen, wurde Girsberger mit der Überarbeitung der gesamten Bestuhlung beauftragt. Bilder: Girsberger

Girsberger führt ganz unterschiedliche Remanufacturing-Projekte durch. Bekannte Beispiele sind z.B. die Auffrischung der Konzertbestuhlungen beim KKL in Luzern, Sitzmobiliar im Alters- und Pflegeheim Escale in La Chaux-de-Fonds oder im Baur au Lac in Zürich.

Was sind Gründe, weshalb Kunden für ein Remanufacturing zu Euch kommen?

DM: Die Gründe sind vielfältig und reichen vom Einhalten von Denkmalschutzauflagen, über das Bewahren der ästhetischen und ergonomischen Qualität, bis zu klaren Kosteneinsparungen und Nachhaltigkeitsaspekten.

Es können sehr emotionale und gleichzeitig auch pragmatische Gründe sein: Unsere Kunden wollen ihre liebgewonnenen und noch wertigen Möbel erhalten – zu einem Preis, der auch unter dem einer gleichwertigen Neuanschaffung liegt.
Ausserdem kommt ein rationaler Aspekt hinzu und zwar im Zuge der unabdingbaren Notwendigkeit der Ressourcenschonung und der öffentlich steigenden Aufmerksamkeit gegenüber dem Thema Kreislaufwirtschaft.

Was sind die wirtschaftlichen Vorteile von Remanufacturing?

DM: Allgemein können wir sagen, dass durch eine Überarbeitung wertiger Möbel im Vergleich zu einer Neuanschaffung bis zu 50 % der Kosten eingespart werden können. Voraussetzung ist, dass die Bearbeitung in einer gewissen Stückzahl erfolgt.

Die Massnahme ist also einerseits gut fürs Budget und andererseits auch dank der Ressourcenschonung ein guter Beitrag im Sinne der Kreislaufwirtschaft und der ökologischen Verantwortung der Auftraggeber. Beim Remanufacturing verbrauchen wir im Vergleich zur Neuherstellung weniger natürliche Ressourcen, weniger Energie und erzeugen weniger Abfall, während wir die eine Qualität bieten, die dem Neuzustand gleich kommt oder durch neue Produkteigenschaften sogar noch besser ist.

 

Durch eine Überarbeitung wertiger Möbel können im Vergleich zu einer Neuanschaffung bis zu 50 % der Kosten eingespart werden.

 

– Davide Mastrodomenico, Bereichsleiter Remanufacturing, Girsberger

Was waren zu Beginn die Herausforderungen beim Umsetzen von Remanufacturing und welche Herausforderungen habt Ihr aktuell?

DM: Unser Geschäftsbereich hat sich ganz natürlich entwickelt, auch weil wir bereits über die meisten geforderten Kompetenzen für das Remanufacturing verfügen. Insofern beziehen sich die Herausforderungen vor allem darauf, die Aufträge meist in sehr knapp bemessenen Zeitfenstern umzusetzen und die Arbeitsschritte entsprechend zu orchestrieren. Das Auffinden und Hinzuziehen von Experten für Spezialaufgaben gehört ebenso dazu. Ganz allgemein spielt aktuell dabei auch die Situation des allgemein verbreiteten Fachkräftemangels eine Rolle.

Was würdest Du anderen Unternehmen in anderen Branchen empfehlen, wenn sie Remanufacturing einführen wollen?

DM: Viele heutige Produktionsbetriebe haben die Herstellung und die damit verbundenen Kompetenzen längst in ferne Länder verlagert. Produkte werden oft nicht mehr unter dem Aspekt einer Reparierbarkeit konzipiert, d.h. sie sind nicht aus Materialien von Dauer gefertigt, nicht sortenrein in ihre Einzelteile zerlegbar und können auch nicht durch neue Teile ergänzt werden. Ein Umdenken bei der Produktion wäre also eine erste wichtige Voraussetzung für eine spätere Reparierbarkeit und ein Remanufacturing – vorausgesetzt, die handwerklichen Kompetenzen sind überhaupt im Unternehmen vorhanden.

 

Ein Umdenken bei der Produktion wäre also eine erste wichtige Voraussetzung für eine spätere Reparierbarkeit und ein Remanufacturing – vorausgesetzt, die handwerklichen Kompetenzen sind überhaupt im Unternehmen vorhanden.

– Davide Mastrodomenico, Bereichsleiter Remanufacturing, Girsberger

Remanufacturing ist eine Strategie aus der Kreislaufwirtschaft. Welche Bedeutung hat die Kreislaufwirtschaft für Girsberger und welch andere Massnahmen in diesem Bereich setzt Ihr um?

DM: Vielmehr als eine Strategie sollte Remanufacturing zu allererst eine Selbstverständlichkeit sein. Eine, die früher gang und gäbe war und in grossem Stil vergessen und verdrängt wurde zugunsten einer wachstumshungrigen Industrie mit kurzen Produktlebenszyklen.

Bei Girsberger – in der Eigenschaft als herstellendes Unternehmen mit eigenen Kollektionen – beginnt der Kreislaufgedanke beim Möbeldesign, um eben später eine Reparatur, eine Überarbeitung oder auch ein sortenreines Recyceln zu ermöglichen. Hinzu kommt die Verwendung von Holz als nachwachsender Rohstoff im grossen Stil. Der Einsatz von Rezyklaten wird immer überprüft, kommt aber im Objektbereich bei tragenden Strukturen aus Belastbarkeitsgründen (noch) nicht in Frage. Hingegen bei Polstermaterialien oder Bezugsstoffen experimentieren wir auch mit Füllstoffen aus Altmatratzen oder Stoffen, in die zum Teil Fasern aus in den Weltmeeren gesammeltem Plastikmüll eingearbeitet wurden.

Kannst Du ein bisschen Einblick geben, wohin Eure Reise im Remanufacturing und im Bereich Nachhaltigkeit geht? Was plant Ihr als Nächstes anzugehen?

DM: Upcycling ist ein wichtiges neues Spielfeld ergänzend zum Bereich Remanufacturing. Hier werden noch brauchbare Teile oder Ressourcen aus bestehenden, meist aus der Mode gekommenen oder unschönen, abgenutzten Möbeln entnommen und in einem völlig neuen Zusammenhang weiterverwertet. Viele Firmen verfügen über ganze Arsenale alter Möbel oder Einrichtungselemente wie Regale, Korpusse oder Tische. Zerlegt man diese und stellt brauchbare neue Elemente daraus her, lassen sich diese in Verbindung mit neuen Teilen, mit neuen Oberflächen und neuen Nutzungskonzepten zu neuem Leben erwecken. In diesem Bereich versuchen wir wirklich Impulsgeber zu sein.

Die Nachhaltigkeitsmassnahmen bei Girsberger alle aufzuzählen, würde den Rahmen sprengen. Wir sind seit 2015 CO2-neutral, verfügen über eigene Solaranlagen und nutzen unsere Holzabfälle für die Engergiegewinnung. Darüber hinaus gibt es neben einer allgemeinen Ressourcenschonung sehr viele Aspekte und Einzelmassnahmen, die alle in unserem regelmässig erscheinenden Nachhaltigkeitsbericht nachzulesen sind.

Für Girsberger als Gesamtunternehmen gesprochen, arbeiten wir ständig an neuen Nachhaltigkeitszielen – die jährlich neu definiert werden. Sicher gehört neben den energetischen Themen die Integration immer neuer Elemente aus nachwachsenden Rohstoffen oder sinnvollen Rezyklaten dazu.

Vielen Dank für das Interview.

 

 

Über Girsberger

Die Schweizer Unternehmensgruppe wurde im Jahr 1889 als Drechslerei in Zürich gegründet und entwickelte sich zu einem international namhaften Sitzmöbelhersteller. Im Zuge der weiteren Unternehmensentwicklung wurden die eigenen Fertigungsbetriebe und die besondere Handwerkskompetenz in den Bereichen Polsterung, Massivholz- und Oberflächenbearbeitung gezielt ausgebaut. Das heutige Leistungsangebot umfasst qualitativ hochwertige Möbel für den Büro-, Objekt- und Wohnbereich, objektspezifische Sondermöblierungen (Customized Furniture) sowie die Wiederinstandsetzung und das Upcycling von gebrauchtem Mobiliar (Remanufacturing). Von Koblenz aus, nahe der Grenze zu Deutschland, beliefert der Bereich Massivholzhandel holzverarbeitende Betriebe aller Art mit hochwertigen Massivhölzern. Seit 1993 führt Michael Girsberger die internationale Firmengruppe in der vierten Generation.

www.girsberger.com

Mehr zum Blog von Milani

Milani ist die führende Schweizer Innovations- und Produktdesign-Agentur mit Fokus auf Nachhaltigkeit.

Auf unserem Blog teilen wir Wissen und Best Practices zu den Themen Design und Innovation für Nachhaltigkeit. Dazu lassen wir Vorreiter zu Wort kommen.

Bleiben Sie hier auf dem Laufenden! https://milani.ch/de/blog/

Veröffentlicht am: 23. März 2023